2023

steirischer herbst ’23
Humans and Demons

Intendanz
Ekaterina Degot

Festivaldaten
21.9.–15.10.2023

Kuratorisches Team
Intendantin und Chefkuratorin
Ekaterina Degot

Senior Kurator:innen
David Riff
Pieternel Vermoortel

Kurator
Gábor Thury

Assistenzkuratorin
Barbara Seyerl

Bei Humans and Demons geht es nicht um „Gut und Böse“. Nein, Humans and Demons bedeutet eher „Status quo und Böse“.
Wir wissen, was schrecklich ist, aber oft nicht, was gut ist – soll es gut sein für den Planeten im nächsten Jahrhundert oder gut für den Urlaub unserer Kinder heute? Gut für den gerechten Sieg über den Aggressor oder für den sofortigen Friedensvertrag mit dem Aggressor? Für die offene Ablehnung der Diktatur oder für die Sicherheit unserer Familie, die noch unter dieser Diktatur lebt?
[…]
So beunruhigend es klingen mag, wenn wir unsere freien Gesellschaften verstehen wollen, ist es Zeit, auf Leute zu hören, die in Lagern und Diktaturen gelebt haben, die Stimmen derer zu hören, die es noch immer tun, derjenigen, die weiterhin in Russland, Belarus, Iran, Afghanistan oder gar Nordkorea leben – wir können uns nicht sicher sein, dass es dort keine unterdrückten Stimmen gibt, Stimmen, die sehr bald verstummen könnten.
—Ekaterina Degot

Die sechste Ausgabe unter der Intendanz von Ekaterina Degot – ihr Vertrag war nach fünf Jahren um weitere fünf verlängert worden – erforschte die Grauzonen des ethischen Handlungsspielraums in Zeiten multipler Krisen und Bedrohungen. Ausgehend von Primo Levi, der viel über die Ansteckungskraft des Bösen im Raum zwischen Opfer und Täter, über die „Linie, die den Schwachen vom Schändlichen trennt“ schrieb, widmete sich Humans and Demons dem Dämonischen im Menschen und umgekehrt. Als würde sich das 20. Jahrhundert ewig fortsetzen, wird unsere Welt von autoritären Charakteren regiert – von Rechtspopulisten bis zu libertären Tech-Gurus –, was eine Wahl zwischen Gut und Böse obsolet macht und uns wieder vor die absurde Situation stellt, Kompromisse einzugehen und das kleinere Übel zu wählen, so das Festival.

Ekaterina Degot eröffnete den steirischen herbst ʼ23 am höchsten Punkt der Grazer Innenstadt. Vor dem historischen Uhrturm hielt sie ihre Rede gegenüber dem Denkmal eines nackten Soldaten von 1932. Es stammt vom Grazer Bildhauer Wilhelm Gösser, der seine Karriere ohne Skrupel in den Dienst jeder Ideologie stellte. Daran anknüpfend konfrontierten drei schrill kostümierte Performer:innen auf Hebebühnen und der Chor der Grazer Kapellknaben in Lulu Obermayers Opern-Performance Agoraphobia das protofaschistische Heldenbildnis mit dem Thema männlicher Tränen in der europäischen Operngeschichte. Dem ersten Eröffnungsakt auf dem Schloßberg folgte ein zweiter auf der anderen Murseite, auf dem Mariahilfplatz, auf dem – nach einer Unterbrechung durch Vertreter:innen der Letzten Generation – Lokalpolitiker:innen sich über Regeln und Anpassung austauschten, bevor Michael Portnoy und sein Ensemble in den Fenstern der anliegenden Häuser die Amtseinführung eines „Direktors für Verhaltensweisen“ in gewohnt grotesk-überzogener Weise zelebrierten. Zum Abschluss erkundeten die Choreografin Adrienn Hód und HODWORKS in der Helmut List Halle mit Voice of Power (2023), wie die heutzutage wieder erstarkten Regeln, Moralvorstellungen und sozialen Normen unsere körperliche Realität beeinflussen.

Das Konzept von Humans and Demons entwickelte sich wie ein Fortsetzungsroman über vier über die Stadt verteilte Ausstellungen. Die Erzählungen kreisten in „kuratorischen Interventionen“ um vier tragikomische Figuren (drei davon real, eine fiktiv), deren Schicksale exemplarisch für eben jene Grauzonen stehen und deren Wege sie Mitte des 20. Jahrhunderts durch Graz führten – oder hier endeten.

Das Kapitel Demon Radio in einem leer stehenden Callcenter im Villenviertel Mariatrost war der höchst ambivalenten Figur Dietrich Schulz-Köhns (1912–1999) gewidmet. Der später als Dr. Jazz bekannte Radiomoderator war als überzeugter Nationalsozialist Mitglied der SA und NSDAP – zwischen seiner Liebe für Schwarzen Jazz und seiner politischen Gesinnung sah er offenbar keinen Widerspruch. Sein Archiv und seine Plattensammlung, die er der 1969 von ihm in Graz mitgegründeten Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung vermachte, bildeten den Kontext für Werke, die um das komplexe Verhältnis von Macht und akustischen Impulsen kreisten – darunter als Neuproduktionen Dani Gals Film Dark Continent (2023) nach einer Fallstudie Frantz Fanons über eine aus dem Geist der Kolonialzeit vererbte rassistische Phobie vor dem Klang afrikanischer Trommeln; Anton Katsʼ The Cemetery of Melodies Alive (2023), eine auditive Suche nach einer Kindheit in der ukrainischen Stadt Cherson; oder das Video Onset (2023) von Anna Engelhardt und Mark Cinkevich, in dem die Künstler:innen der grausamen Taktik des russischen Militärs mit ihrer Praktik der „angewandten Dämonologie“ begegnen.

In einem Seitentrakt von Demon Radio gab Giacomo Veronesis Installation und Performance Border EUphoria (2023) mit Bewohner:innen der estnisch-russischen Grenzstadt Narva einen Eindruck der existenziell-absurden Realität des Lebens mit sogenannten Alien-Pässen.

Das Forum Stadtpark wurde zur Villa Perpetuum Mobile, der fiktionalen Residenz des Physikers, Dichters und zeitweiligen Psychiatriepatienten Stefan Marinov (1931–1997), der in seiner Heimat Bulgarien erfolglos gegen die kommunistische Herrschaft rebellierte, Einsteins Relativitätstheorie infrage stellte und zeitlebens an der Entwicklung eines Perpetuum Mobile arbeitete. In Graz gründete er das Institute of Fundamental Physics – nach dem Scheitern seiner Experimente stürzte er sich von einer Treppe der Grazer Universitätsbibliothek in den Tod. Marinovs Nachlass war eingebettet in künstlerische Inszenierungen, etwa von Alice Creischer, Vadim Fishkin und Pedro Gómez-Egaña, die sich mit esoterischer Physik, alternativen Energien und gescheiterten Utopien auseinandersetzen. In Michael Stevensons pneumatischer Installation Strategic-Level Spiritual Warfare (2014–23) entschieden computerspielende Bots darüber, in welche Richtung sich zwei Türen „wie von Geisterhand“ öffnen – ein Schwellenmoment gefühlter Ohnmacht gegenüber dem unsichtbaren Bösen.

Die Geister einer gescheiterten Moderne beschwor Church of Ruined Modernity im barocken Minoritenkloster, wo KI-generierte Fotografien die nach Brasilien emigrierte abstrakte Malerin Mira Schendel (1919–1988) imaginierten. Sie hatte 1944 eine undokumentierte Reise nach Graz unternommen, um an Ausreisepapiere zu gelangen, und 1969 eine Einzelausstellung im Minoritensaal. Maria Loboda, Andreas Fogarasi und die Choreografin Meg Stuart setzten sich in Skulptur, Assemblage und Tanz mit Versatzstücken modernistischer Architektur auseinander, Fogarasi und Stuart in direkter Interaktion mit der kurz vor dem Abriss stehenden Vorklinik. Dana Kavelina hingegen untersuchte in ihrem expressionistisch-surrealen Puppentrickfilm The Lemberg Machine (2023) die Geschichte der Pogrome in der westukrainischen Stadt Lwiw im Zweiten Weltkrieg. Vier Jahre arbeitete sie an dem Film, wiederholt unterbrochen durch die aktuellen politischen Ereignisse.

Eine nachträglich manipulierte Postkarte einer Friedensdemonstration von 1925 – aus Angst vor NS-Verfolgung wurde aus einem Appell für Frieden kurzerhand „Frieda“ – lieferte schließlich die Inspiration für Submarine Frieda, eine versunkene Imaginationswelt in einem leer stehenden Supermarkt in Gries, mit Arbeiten von Lucile Desamory, Georg Haberler und Shimabuku.

Neben den Ausstellungen und Performances im Kontext von Humans and Demons fungierten als bewährte Formate des steirische herbst wieder Ideen, herbstvermittlung, herbstkabarett und herbstbar. Traditionsgemäß Teil des Programms waren auch wieder das ORF musikprotokoll und das Literaturfestival Out of Joint, während das Partnerprogramm Ausstellungen, Theater, Performance und Oper in Institutionen und Off-Spaces in Graz und der Steiermark umfasste.

Programm

Humans and Demons

Performances

Ausstellungen

Demon Radio

Villa Perpetuum Mobile

Church of Ruined Modernity

Submarine Frieda

Ideen

herbstkabarett

Festivals im Festival

musikprotokoll

Partnerprogramm

Festivaleröffnung

17:00, Uhrturm, Schloßberg
Festivaleröffnung, erster Akt
Mit Ekaterina Degots Eröffnungsrede
Und Lulu Obermayer, Agoraphobia
Performance

18:30, Mariahilferplatz
Festivaleröffnung, zweiter Akt
Mit einem politischen Austausch zu Regeln und Anpassung
Und einer Amtseinführung des Direktors für Verhaltensweisen von Michael Portnoy
Performance

20:30, Helmut List Halle (Halle B)
Adrienn Hód / HODWORKS
Voice of Power
Performance

22:00, Helmut List Halle (Halle D)
herbstclub
Feschak Orkeztra
Grrrls DJ Crew

13:00–19:00, Ausstellungsorte
Soft Openings

Veranstaltungsorte

Alte Mühle / Ramsau Rössing

Annenstraße

Café Wolf

Camera Austria

Church of Ruined Modernity

Cukrarna

Demon Radio

Dom im Berg

Forum Stadtpark

Gatto im Museum (Gastgarten)

Graz Museum

Grazer Kunstverein

HALLE FÜR KUNST Steiermark

HDA – Haus der Architektur

Helmut List Halle

KULTUMUSEUM Graz

KiG! Kultur in Graz

Kristallwerk Graz

Kunst Klub Kräftner / Rösselmühle

Kunsthaus Graz

Literaturhaus Graz

MUMUTH (György-Ligeti-Saal), Haus für Musik und Musiktheater der Kunstuniversität Graz (KUG)

Minoritenzentrum Graz

ORF-Landesstudio Steiermark

Orpheum

Orpheum Extra

Palais Attems

Palais Trauttmansdorff

Prenningʼs Garten

QL-Galerie

RHIZOM

Radio Österreich 1

Roter Keil

Schauspielhaus Graz

Schlossberghotel

Schloßbergplatz / Palais Attems

Submarine Frieda

Theater am Lend

Theater im Bahnhof

Theater im Palais, Kunstuniversität Graz (KUG)

Uhrturm, Schloßberg

Universität Graz

Verschiedene Orte

Villa Perpetuum Mobile

Volksgarten Pavillon

esc medien kunst labor

Öffentlicher Raum / Forum Stadtpark

Retrospektive
Retrospektive
Retrospektive